Die meisten großen Flüsse der Erde sind heute in irgendeiner Form aufgestaut, verbaut oder umgeleitet. WWF-Wasserexperte Philipp Wagnitz über den aktuellen Zustand unserer globalen Lebensadern.

Unsere Flüsse stecken im Stau. Warum?

Philipp Wagnitz © Daniel Seiffert / WWF
Philipp Wagnitz © Daniel Seiffert / WWF

Philipp Wagnitz: Um die Wasserversorgung zu sichern und um Energie zu gewinnen. Energie aus Wasserkraft ist heute mit Abstand die Hauptquelle erneuerbaren Stroms (ca. 70 Prozent weltweit). Es gibt rund um den Globus 60.000 große Dämme mit einer Kapazität von einem Megawatt oder mehr. Weitere 3800 große Anlagen sind derzeit in Planung. Das führt dazu, dass nur knapp ein Drittel aller großen Flüsse der Erde noch frei fließt.

Die große Mehrheit unserer Fließgewässer hingegen besitzt keinen Durchfluss mehr, taktet nicht mehr im Ganzen, ist in verschiedene Abschnitte getrennt und erreicht oftmals gar nicht mehr das Meer.

Tag der wandernden Fische am 21. April 2018:

„Ob Aale, Störe oder Lachse: Wir müssen uns klarmachen, wie ökologisch wertvoll wandernde Fische sind und dass viele Arten ernsthaft bedroht sind. Dazu sollten wir verstehen, was sie brauchen, um ein normales Leben zu führen. Eben keine Dämme, begradigte Flüsse, Wehre, Netze oder Industrieabfälle! Sich für diese Tiere einzusetzen, hilft nicht nur den Fischen selbst, sondern vor allem uns Menschen. Wir müssen die Lebensadern von Mutter Erde noch viel stärker schützen als bisher. Sonst kommt es immer mehr zu Flussinfarkten.“

Philipp Wagnitz, WWF Deutschland

Welche Folgen hat das?

Erhebliche, vor allem für uns Menschen! Flussdeltas, einst die Kornkammern vieler Länder, erhalten durch Dammbauten wie in Ägypten weniger Sedimente und verlieren so ihre Fruchtbarkeit. Fischpopulationen, wie die der Aale, gehen dramatisch zurück, weil sie es nicht über Sperrmauern hinweg zu ihren Laichgründen schaffen. Und Fischer fangen weniger Tiere.

Hinzu kommt, dass ein Hochwasser schneller und höher ausfällt, wenn ein Fluss von seinen natürlichen Überschwemmungsgebieten, den Auen, mit Dämmen abgeschnitten worden ist. All das demonstriert, dass bauliche Veränderungen eines Flusses eben nicht so „grün“ sind, wie das oft angenommen wird.

Du hast den Aal bereits erwähnt: Wie schlimm sind die Auswirkungen für die Tierwelt?

Europäischer Aal © Erling Svensen / WWF
Europäischer Aal © Erling Svensen / WWF

Wandernde Fischarten sind die Hauptleidtragenden des Flussverbaus. Der Aal ist in Europa ein besonders gravierendes Beispiel: Sein Bestand hat sich allein zwischen 1980 und 1999 um unvorstellbare 97 Prozent reduziert. Auch deshalb ist der einstige Arme-Leute-Fisch heute zu einer teuren Delikatesse geworden.

Am Mekong wiederum wird gerade der riesige Sambor-Damm geplant. Er würde mehr als 100 endemische Fischarten bedrohen.

Doch die Dämme treffen nicht nur Fische: Die Bestände aller Wirbeltiere, die in Flüssen und Feuchtgebieten leben, sind seit 1970 um rund 80 Prozent zurückgegangen. Das zeigt der jüngste Living Planet Index des WWF. So einen Einbruch in so kurzer Zeit gab es in keinem anderen Lebensraum, und dazu hat in erheblichem Maß die Verbauung von Flüssen beigetragen.

In welchen Regionen sind die Folgen von Staudämmen besonders gravierend?

Weltweit sind Nordamerika, Europa, die Pazifikküste Südamerikas, Indien, China und Südostasien am stärksten betroffen. In Asien sind derzeit die meisten großen Dämme geplant – mit einer Kapazität von jeweils mehr als 15 Gigawatt.

Auch im Weltnaturerbe Selous in Tansania soll ein Staudamm errichtet werden. Der Stausee dahinter würde nicht nur Lebensraum für Wildtiere zerstören, sondern ebenso wichtige Wanderrouten überschwemmen. Der WWF versucht aktiv vor Ort, diese Katastrophe zu verhindern.

In Zukunft wird es einen weiteren Wasserkraft-Boom in Südamerika, dem Balkan, Südostasien und Teilen Afrikas geben. In vielen Ländern dort ist es allerdings nicht leicht, Entscheider von vernünftigeren Lösungen zu überzeugen.

Was wären denn vernünftigere Lösungen – Dämme abreißen oder verhindern?

Tatsächlich werden aktuell in den USA und Europa – außer dem Balkan –  kaum noch Anlagen gebaut und sogar immer mehr Dämme abgerissen. Das begrüßen wir sehr.

Andere Teile der Welt wollen aber ihren Energiebedarf weiter durch Wasserkraft decken. Dort muss nach Ansicht des WWF vermehrt auf eine nachhaltige Wasserkraftplanung gesetzt werden.

Gibt es denn nachhaltige Wasserkraft?

Wasserkraftwerk in Russland © Hartmut Jungius / WWF
Wasserkraftwerk in Russland © Hartmut Jungius / WWF

Durchaus. Doch bisher baut man meist eine – oftmals möglichst große – Anlage irgendwo hin, ohne sich Gedanken zu machen, was das Bauwerk für Folgen für Mensch und Natur hat. Alternativen werden oft nicht ausgelotet.

Künftig sollte man sich daher zuerst fragen: Brauche ich unbedingt Wasserkraft oder setze ich nicht besser auf andere, eindeutig nachhaltige Technologien? Solar und Windkraft haben mittlerweile eine wirkliche Marktreife erlangt und sind gerade in Entwicklungsländern eine starke und vor allem dezentrale alternative Energiequelle.

Wenn diese Alternativen nicht in Frage kommen, sollte man einen Standort finden, an dem das Kosten-Nutzen-Verhältnis für Mensch und Natur am günstigsten ist. Muss die Anlage zum Beispiel wirklich an den Hauptstrom oder reicht auch ein Nebenarm, damit der Hauptstrom weiter frei fließen kann?

Wenn die Anlage gebaut wird, sollte sie auch zertifiziert werden. Das geht mit dem Protokoll für nachhaltige Wasserkraft. Das hat der WWF zusammen mit der Welt-Wasserkraft-Organisation entwickelt. Der Check hilft, den ökologischen Schaden einer Wasserkraftanlage so gering wie möglich zu halten. Das Verfahren wird bereits an 16 Standorten getestet oder angewendet.

Vom Dammrückbau bis zur Renaturierung, vom Wassersparen bis zu nachhaltigeren Energiegewinnung an Flüssen: Der WWF will auf vielen Wegen mithelfen, die weitere Zerstörung unserer Lebensadern zu verhindern und ganze Flusslandschaften für künftige Generationen dauerhaft zu bewahren.

Mehr zum Thema im WWF Magazin 2/2018 >>

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